Alles hat seine Zeit...Sein und Werden

Alles hat seine Zeit, alles auf dieser Welt hat seine ihm gesetzte Frist: Geboren werden hat seine Zeit wie auch das Sterben. Pflanzen hat seine Zeit wie auch das Ausreißen des Gepflanzten. Töten hat seine Zeit wie auch das Heilen. Niederreißen hat seine Zeit wie auch das Aufbauen.
Weinen hat seine Zeit wie auch das Lachen. Klagen hat seine Zeit wie auch das Tanzen. Steine zerstreuen hat seine Zeit wie auch das Sammeln von Steinen. Umarmen hat seine Zeit wie auch das Loslassen. Suchen hat seine Zeit wie auch das Verlieren. Behalten hat seine Zeit wie auch das Wegwerfen.
Zerreißen hat seine Zeit wie auch das Flicken. Schweigen hat seine Zeit wie auch das Reden.
Lieben hat seine Zeit wie auch das Hassen. Krieg hat seine Zeit wie auch der Frieden. (Prediger 3, 1 - 8, die Bibel)

31. Mai 2015

Abschied...

Ja, dieser Post handelt vom Abschied, vom Loslassen, vom Trauern;
Ich muss mich verabschieden, muss loslassen. Ich habe es geliebt, es gehegt und gepflegt, ihm nur das Beste zukommen lassen, damit es schön wächst und gedeiht. Im Laufe der Jahre wurde es beachtlich groß und nahm einen gewaltigen Platz in meinem Leben ein. Ja, es war mein bester Freund. Es war mir näher als alles andere. Doch nun muss ich es verabschieden und loslassen -
Mein liebes Ego.
Ich habe ja bemerkt, dass sich so einiges geändert hat, seit unser kleiner Prinz das Licht der Welt erblicken durfte. Meine Bedürfnisse, so merkte ich, wurden hinten angestellt - so dachte ich. In Wahrheit haben sie sich aber einfach nur verschoben. Mein Bedürfnis ist ER. Sein Wohlergehen, seine Gesundheit, seine psychische Unversehrtheit, sein Leben. Doch nach vier Monaten muss ich mir eingestehen, dass mit den vielen Vorstellungen und Plänen, wie ich die Babyzeit gestalten wollte, nur meine eigenen Bedürfnisse gestillt worden wäre...wäre deswegen, weil mich die Realität eines Besseren belehrt hat.
Als moderne Jungmama, die sich im Zuge ihrer Ausbildung intensiv mit dem Thema Bindung auseinander gesetzt hat und nun ganz heiß darauf war, gelernte Theorien in die Praxis umzusetzen und dabei ein top sicher gebundenes, psychisch super gesundes uns sozial enorm kompetentes Kind heran zu ziehen, sind mir ALLE gängigen Praktiken um ein Baby bindungsorientiert groß zu ziehen bekannt.
Vom Stillen nach Bedarf überall und zu jeder Zeit und das solange wie möglich über das Co-Sleeping, bestenfalls im Familienbett bis hin zum häufigen Herumtragen in Tuch und Tragehilfe. Dank diversen einschlägigen Ratgebern, die jeder noch so bedacht handelnder Mama mit fundamentalistischen Besserwisser-Floskeln das bindungstechnische Fürchten lehren und dem Durchforsten etlicher Mama-Foren, weiß ich, dass es das Beste ist, mein Kind niemals und unter keinen Umständen schreien zu lassen, es den ganzen Tag immerzu nah an meinem Herzen in der ergonomisch korrekten Anhock-Spreiz Haltung (ACHTUNG: Mami-Experten-Vokabel) zu tragen, es jederzeit, sooft und solange es möchte zu stillen und das am Besten bis es sich im fortgeschrittenen Schulalter selbst dazu entschließt, dass es doch etwas eigenartig ist, sich nach der Mathe-Hausaufgabe an Mamas Busen zu vergnügen. Ein weiteres Muss für jede Mama, die von Kopf bis Fuß auf Bindung eingestellt ist, ist das Familienbett.  Die einzig wahre Vorsorge, eine mental gesundes Kind zu erziehen, ist, wenn es in einem übergroßen Bett zwischen Mama und Papa liegen darf bis es selbst dazu bereit ist, in ein eigenes Zimmer und ein eigenes Bett um zu ziehen - und das passiert bestimmt, so zwischen fünf und fünfzehn Jahren, also keine Panik.
Ja, ich weiß über alles Bescheid. Ich kenne die Argumente der konservativen "mir-hat's-auch-nicht-geschadet" Fraktion vs. die ewig-und-dauernd-stillenden, im Mega-Familien-Matratzen-Lager-schlafenden, Hanf-Kleidung und Massai-Sandalen tragenden Mamas, die sämtliche experimentellen Bindetechniken mit ihrem 16m langen GOS-zertifizierten Bio-Baumwolltuch im Schlaf (im Familienbett) auswendig können. Die Für und die Wider. Und in meinem Kopf gewinnen immer die Nähebedürfnis-Baby-first-Aktivisten. Sie gewinnen und hinterlassen bei mir immer ein Gefühl der Unzulänglichkeit. "Ich stille voll" ist einer Werbeplankette, einem Button ähnlich dem Slogan "yes, we can - we have breasts, so - yes, we can!", den sich diese Mamas auf ihre Brust pinnen (natürlich, als Erinnerungshilfe, mit welcher Seite als nächstes angefangen wird). Was ist denn eigentlich dieses voll im "ich stille voll". Was ist denn halb stillen? Auf jeden Fall hatte ich erwähnte Plankette ebenfalls mit Stolz getragen.
Nach höheren Zielen strebend, sieht bzw. sah mein Babyalltag so aus: Ich bin bzw. war stilltechnisch auf wirklich alles eingestellt, bestens über Stillschwierigkeiten und Ammenmärchen informiert und stets daran interessiert harte Zeiten des Wachstums und der scheinbaren Milcharmut zu überstehen. Fläschchen versuch(t)e ich so lange wie möglich zu vermeiden und wenn dann nur, die extra-schwer-Sauger zu verwenden. Und nur abgepumpte Muttermilch versteht sich. Ein Beistellbettchen steht in unserem Schlafzimmer, um das Co-Sleeping für alle Beteiligten so angenehm wie möglich zu gestalten. Ich besitze fünf (nein, keine satirische Übertreibung) verschiedene Tragesysteme für jedes Gelände, jede Tagesverfassung und jede Witterung. Ich bin besser ausgestattet als ein Babyzubehör-Laden, was diese Dinge angeht.
Und dann kamen die vergangenen zwei Wochen - die Wochen der Veränderung. In denen mein Ego und meine Pläne starben und ich mich wirklich auf MEIN Kind einstellen musste. Angefangen hatte es mit einer unangenehmen Bemerkung während des Wiegens bei der Mutter-Kind-Beratungsstelle. Mein Kind sei viiiiiiiel zu schmal, viel zu dünn, viel zu zögerlich in der Gewichtszunahme. Ich wollte mich nicht verrückt machen lassen und wog mein Baby nicht jede Woche ab, ich vertraute meinen Gefühl und das bemerkte wohl, dass mein Baby zierlich, aber quietschfidel sei. Doch die Worte, die die Dame dort sprachen fühlten sich an wie: DU LÄSST DEIN KIND VERHUNGERN UND SCHAUST AUCH NOCH DABEI ZU!!! Somit war meine Woche gelaufen. Gleich am nächsten Tag holte ich mir eine zweite Meinung meines Hausarztes ein, der mich ein wenig beruhigte. Aber es nützte nichts, zu tief hatte sich das Gefühl des Versagens und angehender Kindesvernachlässigung in meine Gedanken gebrannt. Da fing er an der Trauerprozess. Für mich bedeutete die Option Fläschchennahrung dazu zu füttern das Ende meiner ach so schön erdachten Stillbeziehung. In Wahrheit ließ sich mein Baby nicht durch stillen beruhigen, meistens weinte und zappelte er dabei....einmal mehr einmal weniger. Ich brauchte meine und seine Ruhe, um das Stillen überhaupt möglich zu machen. Da gab es zum Beispiel diese Situation, in der ich mit ihm im nicht-zu-viel-nicht-zu-wenig-Förderwahn einen Babyschwimmkurs besuchte, in dem in der Badepause die engagierte Hebamme zu meinem Baby sagte, er würde jetzt gestillt werden und Mama hätte alles was er brauche dabei. Innerlich schrillten bei mir die Alarmglocken und mit Angst und Schrecken dachte ich daran, jetzt öffentlich stillen zu müssen und das auch noch im Badeanzug (Anm.: Ich musste den Adoptions-Baby-Schwimmkurs erwischt haben, denn diese Mütter hatten definitiv KEINE after-birth-bodies!!). Also entblößte ich mich in einer Ecke zusammengekauert inmitten der anderen Elternpaare ohne after-birth-body und versuchte mein Baby zu Stillen. Wie erwartet, plärrte und zappelte der kleine Mann, was das Zeug hielt...vom Stillen wurde er statt stiller lauter.
Ich schreibe nun schon seit zwei Wochen immer wieder an diesem Post. So lange wie mein Trauerprozess und mein Wahrhaben-Wollen andauerten. Eigentlich tun sie es noch immer. Von ein, zwei zusätzlichen Milchfläschchen am Tag sind wir inzwischen bei einem Fläschchen pro Mahlzeit und über einem halben Kilogramm mehr auf Babys Bäuchlein. Es tat weh zu sehen, wie sehr er sein Fläschchen liebt, inzwischen kann ich mich über sein vor freudig ungeduldiger Aufregung weit aufgesperrtes Schnäbelchen, wenn er das Fläschchen sieht, amüsieren. Ich versuche ihm und vor allem mir noch einen Rest an dieser ganz besonderen Stillnähe zu geben und ihn vor dem Fläschchen zu stillen, aber das ist ihm zu anstrengend, zu wenig ergiebig und überhaupt einfach zu doof, wo es doch dieses wunderbare, nie enden wollende, in gleichförmigem Fluss herausströmende, mit Nektar befüllte Füllhorn namens "Milchflaschi" gibt. Somit sind meine Langzeit Still-Pläne von der harten Realität durchkreuzt worden, weil ich zu den wirklichen 2% der Frauen gehöre, die nicht genug Milch produzieren können. Wie ist das mit Milchkühen, die unzureichend Milch mehr geben? Zum Glück ist man mit mir da gnädiger...
Mein Geheule, meine Getrauere und mein Festgekralle an irgendwelchen Idealvorstellungen waren meinem Baby schnurzpiep, so dass ich nun ein pausbäckiges, fröhlich qietschendes und völlig zufriedenes Flaschenkind bekommen habe. Gott sei's gedankt ist das so.
Meine Vorstellungen müssen fast täglich ein Stückchen sterben und das ist gut so. Denn wo meine Ego stirbt, entsteht ganz viel Platz für mein Baby - seine Liebe, seine Zufriedenheit und sein Wohlergehen. Mein neuer Lehrmeister ist vier Monate alt, zahnlos und muss bei einer Netto Lächel- Glukszeit von mindestens neun Stunden pro Tag wissen, wie man glücklich wird. Ich sollte öfter auf ihn hören.

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