Alles hat seine Zeit...Sein und Werden

Alles hat seine Zeit, alles auf dieser Welt hat seine ihm gesetzte Frist: Geboren werden hat seine Zeit wie auch das Sterben. Pflanzen hat seine Zeit wie auch das Ausreißen des Gepflanzten. Töten hat seine Zeit wie auch das Heilen. Niederreißen hat seine Zeit wie auch das Aufbauen.
Weinen hat seine Zeit wie auch das Lachen. Klagen hat seine Zeit wie auch das Tanzen. Steine zerstreuen hat seine Zeit wie auch das Sammeln von Steinen. Umarmen hat seine Zeit wie auch das Loslassen. Suchen hat seine Zeit wie auch das Verlieren. Behalten hat seine Zeit wie auch das Wegwerfen.
Zerreißen hat seine Zeit wie auch das Flicken. Schweigen hat seine Zeit wie auch das Reden.
Lieben hat seine Zeit wie auch das Hassen. Krieg hat seine Zeit wie auch der Frieden. (Prediger 3, 1 - 8, die Bibel)

20. November 2015

Kontrollverlust...

Kennt ihr diese Postings, die täglich auf den Facebook-Pinwänden vieler Mütter auftauchen. Ihr Inhalt: dramatisch formulierte, blumig gesülzte Weltweisheiten über die Schönheit, über das Wunder, über das süße Leben mit Baby und Kindern. Meist beginnen sie mit "Seit Ich Mutter bin...", "Das Schönste/Beste/Aufregendste/Verzauberndste/(manfügediversepositiveAdverbienoderAdjektivehinzu)..." und enden mit "teile das, wenn du stolz auf (irgendwasoderirgendjemanden) bist..."
Ich bin da ehrlich, ich teile sie nicht. Ich mag sie nicht mal, diese Postings! Sie spucken mir oft ins Gesicht und schreien mich vorwurfsvoll an mit den Worten: "Na? Ist das bei dir etwas nicht so?? WIESO ist das bei dir nicht so? DU BIST EINE SCHLECHTE MUTTER!" Die Verachtung und den Vorwurf für mich selber lese ich aus dem Grund heraus, weil ich mich nicht jeden Tag an meiner Mutterschaft freue. Um ehrlich zu sein, ich fühle mich eher sogar oft nicht wohl in dieser Rolle. Ich fühle mich unterfordert und überfordert zugleich. Fühle mich einsam und überschwemmt zugleich. Ich will weg und nur hier sein. Ich fühle mich nutzlos und unentbehrlich zugleich. Ich fühle mich zerissen, endlich komplett, ausgelöscht.
Ich habe mich lange gefragt, was es ist, was mir solch ein Unbehagen bereitet und einen Teil von mir auch irgendwie unglücklich sein lässt, obwohl ich doch das ungetrübte Glück eines eigenen heranwachsenden Kindes miterleben darf. In vielen Gesprächen mit meinem Mann, der diesen Zustand nur sehr schwer nachvollziehen kann und sich oft in mein Leben, so dicht am Aufwachsen unseres Sohnes, wünscht, sowie mit meinen Freunden bin ich auf die Antwort gestoßen.
Als Vertreterin der Bindungstheorie lege ich viel Wert darauf, dass mein Sohn eine sichere Bindung zu mir aufbauen kann und in der Sicherheit meiner Liebe, Nähe und Versorgung zu einer zufriedenen und gesunden Persönlichkeit heranwachsen kann. Wie ich bereits des öfteren erwähnt habe, habe ich mich damit intensiv in meinem Studium auseinander gesetzt. Nur erfahren und erlebt habe ich es selber noch nicht, außer in Form meiner eigenen Eltern-Kind-Beziehung zu meinen Eltern.
Da ist nämlich noch eine Seite der Bindung, die aus zwei Gliedern besteht - meine. Ich bin gebunden - in jedem Sinne. Ich bin eben auch an mein Kind gebunden, so stark wie zu nichts und niemanden auf dieser Welt. Aus einer körperlichen, engstmöglichen Bindung, als er in meinem Körper herangewachsen ist, ist eine unglaublich enge, verwurzelte, verwobene, verknotete Herzensbindung geworden. Sie ist so stark, dass ich mich oft fühle als wäre ich im Moment nicht mehr ich, nicht mehr wirklich existent, verblasst, gemutet. Mutter zu werden hat für mich geheißen, Vieles was MICH ausgemacht hat aufzugeben, hinter mir zu lassen, auf Stumm zu schalten. Mein Ego musste das meines Sohnes weichen.
Ich fühle mich oft, als hätte ich die Kontrolle über Mein Leben verloren. Über meine Grundbedürfnisse. Mein Schlaf richtet sich nach dem Schlaf des Kleinen. Bevor ich die Toilette aufsuche, muss ich mich vergewissern, dass er in Sicherheit ist und ich werde dort angekommen bestimmt betrauert werden. Einen Besuch in der Dusche muss ich vorher planen. Ich habe meine Kontrolle über meine Freizeit verloren, ich kann nirgends spontan und nichts mit Sicherheit planen. Und neben all den unzähligen Tätigkeiten und Entscheidungen, die vorher meinen Alltag ausgemacht haben und nun von meinem Sohn abhängig sind, trägt sich der größte Kontrollverlust in meinen Gefühlen zu. Ich sorge mich, obwohl ich die Schnauze voll habe. Ich kann an nichts anderes denken als an das Wohlergehen meines Babys. Ich kann nicht anders als ihn zu lieben. Ich kann nicht anders als an ihn zu denken. Ich kann nicht anders als überall die Variable "mein Kind" einzubauen und erst damit zu betrachten und/oder darüber nach zu denken. Sein Leben und meine Liebe zu ihm kontrolliert jede Faser meines Seins. So dass ich mich grau daran erinnern kann, dass ich mal ganz anders war, dachte und handelte. Doch ich kann mich daran erinnern und frage mich dann, wo und wer ich bin.
Mir wird oft gesagt, dass es wieder etwas anders werden würde. Mit der wachsenden Selbstständigkeit der Kinder, wird auch mein Involviert-Sein weniger...dann lösen sie sich immer mehr von Mamas Rockzipfel, lassen los...
Beruhigt mich das etwa? Nein! Ganz und gar nicht. DAS macht mir noch viel mehr Angst...meine Gebundenheit ist ja noch da, mein Herz noch mit Seinem verwoben. Was ist, wenn ich mich eines Tages doch wieder finden sollte? In ihm? In seinem Leben? Wenn ich zu den oben erwähnten Facebook-Postings Ja und Amen sagen kann, mein(e) Kind(er) mich aber langsam nicht mehr so brauchen? Dann muss ich mich wieder suchen gehen...Ja, ich kenne sie, die Lebensphasen, die Phasen der Entwicklung über die Lebensspanne, die verschiedenen Modelle. Die dadurch entstehenden Krisen - in der Theorie, bei anderen. Aber bei mir? Ich weiß nicht, ob mich jemals eine davon gegenwärtig, wie auch in Hinblick auf die Zukunft so gerüttelt und zugleich gelähmt hat...
Bin ich einfach nicht geeignet Mama zu sein? Oder ist das ganz normal? Sich kurze Zeit zu verlieren, um dann wie Phönix aus der Asche auf zu steigen mit dem Wissen: ich bin gewachsen, ich bin stark, auch wenn ich mich müde und ausgelaugt fühle, ich bin eine Heldin, ich liebe bedingungslos, ich bin WIR, ich bin Mama und noch viel mehr, Ich bin ich - und kenne mich jetzt.
Bis dieser Zustand eintritt, suche ich noch nach mir. Und lasse es zu, die Kontrolle über mich zu und mein Leben gegen die Hingabe zu meiner Familie zu tauschen und tauche ein in diese Liebe, die meinem Ego gerade eine Tiefenreinigung verpasst.